Interview: Das Klavier nicht als Insel begreifen

Gespräch mit dem Klavier- und Korrepetitions-Professor Nicholas Rimmer, wie sich das Klavier- vom Korrepetitions-Studium unterscheidet, wem er zur Korrepetition raten würde und wie sein eigener Weg in die Musik verlief
Der Pianist Nicholas Rimmer
Nicholas Rimmer, geboren 1981 im britischen Manchester, ist seit 2020 Professor für Klavier und Korrepetition an der Hochschule für Musik Freiburg. Sein Antrittskonzert konnte er wegen der Corona-Pandemie allerdings erst Anfang 2022 spielen. Ben Klaußner und Ramon Manuel Schneeweiß haben zu diesem Anlass mit ihm darüber gesprochen, was das Klavier- vom Korrepetitions-Studium unterscheidet, wie sein Weg in die Musik verlief und warum es ihn extrem weitergebracht hat, gemeinsam mit anderen zu spielen.

Herr Rimmer, was halten Sie an der Aussage »Wer hervorragend Klavier spielt, kann auch gut korrepetieren«, für falsch?
Nicholas Rimmer: Ich glaube, dass man das vielleicht sogar polemisch umkehren könnte: Wer nur gut Klavier spielen kann, ist noch lange keine vollständige Musikerin oder Musiker. Denn ich finde, dass es bei jeder Art des Musikmachens um mehr geht, als um das bloße Bedienen eines Instruments: Es geht darum, dass man sich als Teil einer Tradition sieht. Als einen vielleicht sehr kleinen Teil, aber als einen Teil der viel größeren Kultur, die sich auch nicht ausschließlich auf die Musik beschränkt. Deswegen sehe ich Korrepetition als Ergebnis einer Musikalität an, die man sich über Jahre hinweg aufgebaut hat.

Was gehört zu dieser Musikalität?
Nicholas Rimmer: Zu den grundsätzlichen Fähigkeiten gehört natürlich, sein Instrument zu beherrschen. Aber auch, sein Gehör zu schulen, ein Verständnis und ein Gefühl dafür aufzubauen, was Harmonien sind, wie ein Satz funktioniert und welche Rhetorik die Musik aufweist – die ja manchmal wie eine Sprache funktioniert. All diese Fragen gehen viel weiter und sind letztendlich auch interessanter, als man zunächst denkt. Insofern geht es mir im Studiengang Korrepetition darum, das Mitspielen mit anderen nicht nur als alltägliches Funktionieren zu begreifen, sondern als ein Ergebnis davon, dass man sich tiefgründig und intensiv mit Musik in all seinen Facetten beschäftigt hat.

»Wir wollen unseren Studierenden Fähigkeiten vermitteln, die auf dem Musik-Arbeitsmarkt gebraucht werden.«

Sie haben an der Hochschule für Musik Freiburg eine Professur für Klavier und Korrepetition erhalten, die in dieser Ausrichtung neu geschaffen wurde. Was waren die Gründe dafür?
Nicholas Rimmer: Unser Ziel ist es, jungen Pianistinnen und Pianisten zu zeigen, in welch ganz unterschiedliche Richtungen sie sich durch die Korrepetition entwickeln können. Dafür müssen wir, die Professorinnen und Professoren, unsere jeweiligen Spezialisierungen in einen Lehrplan gießen und sehr stark in die Breite arbeiten – wir müssen alles unterrichten von alter Musik über Kammermusik bis hin zu zeitgenössischer. Diesen Ansatz halte ich für eminent klug, weil er sehr praktisch gedacht ist: Wir wollen unseren Studierenden Fähigkeiten vermitteln, die meiner Meinung nach auf dem Musik-Arbeitsmarkt der nächsten Jahrzehnte gebraucht werden.

Wie denken Ihre Studierenden über diesen Ansatz einer breiten Ausbildung?
Nicholas Rimmer: Ich sehe bei ihnen eine große Offenheit und Neugier dafür. Manche von ihnen wissen bereits früh, in welche Richtung sie später beruflich gehen wollen. Andere müssen sich erst noch ausprobieren und erfahren, in welchen Bereichen ihre Interessen und ihre Stärken liegen. Jeder Weg in die Musik verläuft schließlich anders. Was ich allerdings bei fast allen jungen Studierenden empfinde, ist, dass sie ein sehr gutes Gespür dafür haben, wie der Musik-Arbeitsmarkt aufgebaut ist und wo sie sich mit ihren Fähigkeiten und Interessen darin einordnen. Nur sehr wenige haben unrealistische Vorstellungen von ihrer Zukunft.

Was ist der Unterschied zwischen jemandem, der bei Ihnen Klavier studiert und jemandem, der bei Ihnen Korrepetition studiert?
Nicholas Rimmer: Die Korrepetitions-Studierenden werden sehr gut darin sein, vom Blatt zu lesen. Sie werden gut in unterschiedliche Tonarten transponieren können und manche von ihnen werden sich besonders ausführlich mit Partiturspiel beschäftigen – also zum Beispiel mit der Frage, wie man eine große Orchesterpartitur auf einen Klavierauszug reduziert. Das ist für diejenigen wichtig, die sich später in Richtung Oper und Dirigieren orientieren und sich etwa auf Kapellmeisterstellen bewerben. Und ich strebe an, dass sie nicht nur am Klavier fit sind, sondern auch viel Erfahrung darin sammeln, schnell und unkompliziert mit anderen Musikerinnen und Musikern zusammenspielen zu können. Deswegen ist ein wichtiger Teil des Studiums, dass sie schon früh in anderen Klassen der Hochschule für Musik Freiburg korrepetieren, zum Beispiel in den Blechbläser- oder Gesangsklassen.

Einer der Hauptunterschiede zwischen Klavier- und Korrepetitions-Studium ist also, dass Klavier-Studierende in festen Ensembles spielen und Korrepetitions-Studierende mit ganz unterschiedlichen Musikerinnen und Musikern.
Nicholas Rimmer: Das ist richtig. Aber natürlich ist auch das Repertoire unterschiedlich: Wer Korrepetition studiert, hat ein sehr breites Repertoire – wobei man auch darin seine Schwerpunkte wählen kann. Wenn jemand zum Beispiel gern Instrumental-Korrepetition machen möchte, dann ist es wichtig, die Instrumentalkonzerte sehr gut zu kennen, etwa Mozarts Geigenkonzerte oder Dvořáks Cellokonzerte, und auch die großen Instrumental-Sonaten, zum Beispiel César Francks Violinsonate. Es ist auch möglich, einen Schwerpunkt auf die Oper zu legen, also das Opern-Repertoire gut zu überblicken und zu lernen, vom Klavier aus bestimmte Stimmen in der Probe mitzusingen und auch mal zu dirigieren, das ist auch ein Teil des Studiengangs Korrepetition. Dabei werden wir großartig unterstützt von der Dirigier-Abteilung der Hochschule für Musik Freiburg: Unsere Korrepetitions-Studierenden erhalten eine Stunde Dirigierunterricht pro Woche. Denn wenn man als Korrepetitorin oder Korrepetitor an einem Opernhaus arbeitet, ist das häufig ein Zwischenschritt zur Dirigentin oder zum Dirigenten.

»Meiner Ansicht nach profitiert man ungemein davon, wenn man mit anderen musiziert.«

Welchen jungen Pianistinnen oder Pianisten würden Sie dazu raten, Korrepetition zu studieren?
Nicholas Rimmer: Ich erwarte von niemandem, dass er oder sie mit 18 oder 19 Jahren schon weiß: »Ich will Korrepetitorin oder Korrepetitor werden«. Deswegen bauen wir an der Hochschule für Musik Freiburg auch zusätzlich zu dem Master-Studiengang »Korrepetition / Collaborative Piano« noch einen Minor-Studiengang Korrepetition auf, also ein Nebenfach im Bachelor-Studium Musik, der voraussichtlich ab dem Sommersemester 2023 angeboten wird. Er ist als eine Art Schnupper-Studiengang angelegt: Diejenigen, die sich für viele Themen interessieren und sich nicht entscheiden können oder die merken, ich bin eine tolle Pianistin oder ein toller Pianist, aber beispielsweise bei Wettbewerben klappt es nicht so richtig, die sollten Korrepetition ausprobieren. Denn dann können sie entdecken, wie interessant dieser Bereich ist, wie viel er einem musikalisch abverlangt und wie groß das Repertoire ist, das man mit anderen Musikerinnen und Musikern spielt. Meiner Ansicht nach profitiert man ungemein davon, wenn man mit anderen musiziert – egal, ob das eine tolle Trompeterin ist oder ein fantastischer Bariton. Und ich glaube, dass viele Pianistinnen und Pianisten in ihrem Berufsleben dankbar dafür sind, wenn sie schon früh in ihrem Studium solche Erfahrungen machen durften.

Ihr eigener Studienweg war ja auch nicht klassisch: Sie haben zunächst Musikwissenschaft in Cambridge studiert und erst danach ein Klavier-Studium absolviert. Warum wollten Sie sich auch mit der theoretischen Seite intensiv auseinandersetzen?
Nicholas Rimmer: Ich bin in England, in Manchester aufgewachsen und mein Klavierlehrer dort nahm mich eines Tages zur Seite und sagte mir, dass ich nicht an der dortigen Hochschule Klavier studieren, sondern mich für Musikwissenschaft am Clare College der Universität Cambridge bewerben solle. Er meinte, darin würde ich mehr aufgehen und es wäre passender für mich. Damit hatte er Recht. Wenn man von außen auf die Universität Cambridge schaut, denkt man, dass das Studium dort sehr akademisch und theoretisch ist. Das ist aber nur ein kleiner Teil. Als Musikstudentin oder Musikstudent hat man dort viele Möglichkeiten, sich zu entfalten: Es gibt zahlreiche gute Chöre, fantastische Kammermusik-Reihen und viele Projekte, bei denen hervorragende Instrumentalistinnen und Instrumentalisten mitmachen. Cambridge war für mich ideal, weil ich schon wusste, dass mich dirigieren sehr interessiert, dass ich gern andere begleite, gern mit Chören zusammenarbeite – auf so viele verschiedene Arten gefordert zu werden, hat mich sehr inspiriert und erfüllt. Viel mehr, als wenn ich mich nur aufs Klavier gestürzt hätte und auf das Klavierrepertoire.

Sie spielen in diversen Kammermusik-Formationen mit und haben viele CDs eingespielt, in Ensembles, aber auch als Solist. Hat das Spielen in Ensembles auch Ihre Fähigkeiten als Solist prägen?
Nicholas Rimmer: Unbedingt! Ich habe von meinen Mitmusikerinnen und Mitmusikern in Ensembles mindestens genauso viel gelernt wie von meinen wirklich tollen Klavierprofessorinnen und -professoren! Als Pianistin oder Pianist gewinnt man wirklich sehr viel, wenn man anfängt, über das Instrument hinaus zu denken, also zum Beispiel versucht, wie eine Geigerin zu denken, mit Auf- und Abstrich, oder wie ein Sänger, der schon vorher weiß, wo und wie er atmen muss. Je etablierter ich als Kammermusiker wurde, desto klarer wurde mir, dass ich auch als Solist meinen Part so gestalten möchte wie ein mehrstimmiges Ensemble, oder gar wie ein ganzes Orchester. Und ich merke interessanterweise auch, dass die klassischen Klavierkomponisten wie zum Beispiel Sergej Rachmaninov, Sergej Prokofiev oder Franz Liszt ebenfalls nicht nur pianistisch gedacht haben, sondern über das Instrument hinaus. Sie haben das Klavier nicht als Insel begriffen. Meiner Erfahrung nach ist das etwas, was kluge Musikerinnen und Musiker tun: Sie trennen Bereiche nicht Bereiche voneinander, sondern sie spüren, wie man alles miteinander verbinden kann, und das trägt zu einem erfüllten Musikerleben bei.

Weitere Informationen zum Master-Studiengang »Korrepetition / Collaborative Piano« gibt es auf unserer Website.

Die Pressemitteilung zum Antrittskonzert von Nicholas Rimmer finden Sie auf unserer Presseseite.
 

Foto: Andrej Grilc