»Ich fühle mich jetzt viel freier«
Das Hauptfach »Interpretation Neue Klaviermusik« im Master Musik gibt es an der Hochschule für Musik Freiburg seit dem Sommersemester 2022. Ramon Manuel Schneeweiß sprach mit dessen erster Studentin Valeria Lapşin und mit Prof. Alfonso Gómez darüber, wie sie Hürden beim Erarbeiten Neuer Musik meistern, warum die Notation eine große Rolle spielt und welche Chancen die Beschäftigung mit Neuer Musik eröffnet.
Zum Sommersemester 2022 hat die Hochschule für Musik Freiburg das Hauptfach »Interpretation Neue Klaviermusik« im Studiengang Master Musik eingeführt. Damit entwickelt sie ihre lange Tradition der Beschäftigung mit Neuer Musik in Komposition und Interpretation weiter und schließt eine Lücke in ihrem Studienangebot: Jungen Pianistinnen und Pianisten wird mit dem neuen Hauptfach die Möglichkeit geboten, sich in ihrem Master intensiv der Interpretation von Klavierwerken der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu widmen.
Valeria Lapşin, seit dem Sommersemester 2022 die erste Studentin des neuen Hauptfachs, hat bereits einen Master im Fach Klavier abgeschlossen und arbeitet derzeit an ihrer Promotion. Prof. Alfonso Gómez ist seit dem Wintersemester 2019/2020 Professor für Klavier mit dem Schwerpunkt zeitgenössischer Musik an der Hochschule für Musik Freiburg und unterrichtet neben dem Hauptfach Klavier das Fach »Interpretation Neue Klaviermusik«. Er hat in Spanien und den Niederlanden studiert und sein Konzertexamen an der Hochschule für Musik Freiburg bei Prof. Dr. Tibor Szász mit Auszeichnung abgeschlossen. Er ist international als Konzertpianist tätig und hat zahlreiche CDs aufgenommen – insbesondere seine Aufnahmen zeitgenössischer Werke wurden mit Preisen ausgezeichnet.
Frau Lapşin, Herr Gómez, wie haben Sie zur Neuen Musik gefunden?
Valeria Lapşin: Ich habe einen Master im Fach Klavier. Während meines Studiums habe ich die Interpretation der Klaviermusik vergangener Jahrhunderte erlernt. Seit einiger Zeit arbeite ich an einer Dissertation über die Sonaten von Nikolai Medtner, der ein expliziter Gegner Neuer Musik war. Beides hat mich dazu gebracht, mich intensiver mit Neuer Musik zu beschäftigen. Ich möchte mich aus meiner Komfortzone begeben. Ich möchte Neue Musik verstehen und auch nachvollziehen können, warum Medtner so dagegen war. Auch für mich war es am Anfang schwierig, die Schönheit dieser Musik zu erkennen. Der Master in Freiburg hilft mir sehr, unterschiedliche Schönheiten von Kunst zu entdecken und zu erleben. Es ist dafür sehr wichtig, Hintergrundwissen zu recherchieren und sich mit der Musik zu beschäftigen. Mit viel Geduld, Übung und Aufgeschlossenheit kann man sich Neuer Musik nähern. Ich habe dabei erkannt, dass es bei Klaviermusik und ihrer Interpretation keine Grenzen gibt.
Alfonso Gómez: Als Kind hatte ich am Konservatorium von Vitoria-Gasteiz in Spanien Unterricht in Klavier, aber auch in Musiktheorie, Musikgeschichte, Gehörbildung, Kammermusik und Improvisation. Das Konservatorium wurde von Komponisten gegründet und geleitet, aktuelle Musik spielte eine große Rolle. Es gab zwei Festivals für zeitgenössische Musik, und als Schülerin oder Schüler des Konservatoriums war man angehalten, sich die Konzerte anzuhören. Das war für mich etwas Besonderes, dem ich mit Respekt begegnet bin, selbst wenn ich die Musik nicht immer verstanden habe. Mein Kontakt zu Neuer Musik ist also ziemlich früh entstanden und mein Interesse an ihr immer weiter gewachsen. In meinem ganzen Klavierstudium hatte ich allerdings keine einzige Stunde mit Neuer Musik. Es hat mich aber immer interessiert, was gerade so komponiert wurde. Diese Musik musste ich mir durch autodidaktisches Lernen und im Kontakt mit den Komponistinnen und Komponisten erarbeiten. Für mich war dieser Kontakt prägend.
Wie hat die Beschäftigung mit Neuer Musik Ihr Verhältnis zur Musik vergangener Jahrhunderte verändert?
Valeria Lapşin: In der Neuen Musik sind viel mehr Informationen über die Musikstücke und die Komponistinnen und Komponisten verfügbar. Die Beschäftigung mit Neuer Musik und ihren Hintergründen hat mir geholfen, als Interpretin viel freier zu werden. Ich fühle mich jetzt auch beim Spielen traditioneller Musik wesentlich freier.
Alfonso Gómez: Ich gebe nach wie vor Konzerte mit klassischer Musik, sie sind ein wichtiger Teil meines Künstlerlebens. Erst kürzlich habe ich beispielsweise ein Konzert mit dem »Wohltemperierten Klavier I« von Johann Sebastian Bach gegeben. Die Beschäftigung mit unterschiedlichen Stilen stellt eine Brücke dar, die in zwei Richtungen führt. Man findet im einen Stil Ideen, die den anderen Stil bereichern. Verändert hat mich vor allem die Erfahrung, mit lebenden Komponistinnen und Komponisten zu arbeiten. Kein kreativer Mensch hält sich hundertprozentig an den niedergeschriebenen Notentext. Die Arbeit mit den Komponistinnen und Komponisten ergänzt daher den Notentext ganz wesentlich. Und das gilt auch für Werke verstorbener Künstlerinnen und Künstler. Nehmen Sie Franz Schubert. Notation war sicherlich keine Stärke von ihm. Seinen Noten fehlen immer wieder Details und Informationen für die Interpretation. Wenn ich mich in sein Werk und Leben vertiefe, um einen Schlüssel zu seinen Stücken zu bekommen, kann ich diese Lücke schließen – so wie ich das auch in der direkten Auseinandersetzung mit einer lebenden Komponistin tun würde.
Welche Herausforderungen bringt das Fach »Interpretation Neue Klaviermusik« mit sich?
Valeria Lapşin: Der Lernprozess ist anders als beim üblichen Master Klavier. Man muss bereit sein, sich mit Notationen auseinanderzusetzen. Die Noten können in der Neuen Musik traditionell oder völlig frei notiert sein, etwa grafisch. Am Anfang kann es wirklich schwierig sein, ein Musikstück zu lesen. Da ist es ein großer Vorteil, dass ich mit Alfonso Gómez einen Lehrer habe, der dabei helfen kann. Er als Autodidakt hat selbst diese Schwierigkeiten gemeistert. Wenn ich früher ein Stück Neuer Musik lernen wollte, habe ich manchmal nach einer Weile aufgegeben. Jetzt hilft mir Alfonso Gómez, weiterzukommen. Mit der Zeit ist es für mich wesentlich einfacher geworden, mich mit Neuer Musik zu beschäftigen. Und jetzt habe ich begonnen, es zu genießen.
Alfonso Gómez: Ich möchte meinen Studierenden ersparen, an der ersten Hürde bei der Beschäftigung mit Neuer Musik zu scheitern. Eine große Herausforderung ist, dass es nicht eine, sondern verschiedene »Neue Musiken« gibt, beispielsweise neue Einfachheit, neue Komplexität, serielle Musik, Aleatorik und viele mehr. Man muss diese Stile differenzieren können und sich mit ihnen auseinandersetzen. Dann wird es viel leichter, sich mit Neuer Musik zu beschäftigen. Innerhalb des Masters gibt es dafür den Kurs »Notation, Ästhetik und Technik Neuer Klaviermusik«, in dem ich versuche, den Studierenden die Unterschiede durch Analysen, Texte und Notenbeispiele zu erklären.
Unterscheidet sich das Unterrichten Neuer Klaviermusik vom klassischen Klavierunterricht?
Alfonso Gómez: Auch in der klassischen Musik spielt die Notation eine große Rolle. Wer beispielsweis die Notation des Jugendwerks Ludwig van Beethovens mit der seines Alterswerks vergleicht, kann viel für die eigene Interpretation gewinnen. Meine Rolle als Lehrer unterscheidet sich in der Aufgabe, die Begeisterung für die Neue Musik zu vermitteln und sie mit den Studierenden gemeinsam zu entdecken. Wir haben meiner Meinung nach verlernt, uns für zeitgenössische Kunst zu begeistern, und diese Begeisterung darf auf keinen Fall fehlen. Die möchte ich in jeder Stunde weitergeben.
Valeria Lapşin: Im Gegensatz zum gewöhnlichen Klavierstudium gibt es beim Hauptfach »Interpretation Neue Klaviermusik« viele Projekte. Es gibt zum Beispiel Side-by-side-Konzerte, bei denen wir mit großen Musikerinnen und Musikern des bekannten Freiburger Ensembles für Neue Musik »Ensemble Recherche« spielen, zusammenarbeiten und lernen. Auch durch die direkte Zusammenarbeit mit den Komponistinnen und Komponisten der Hochschule lerne ich viel. Ich bin durch das Studium hier in der Hochschule vernetzt, das schätze ich sehr. In meinem vorherigen Klavierstudium habe ich vor allem viele Stunden für mich alleine geübt.
Alfonso Gómez: Der Einzelunterricht im Fach Klavier wird durch Ensemblearbeit und Neue Kammermusik ergänzt. Beide Fächer lehrt Friederike Scheunchen, die Leiterin des Ensembles für Neue Musik und Neue Kammermusik an der Hochschule für Musik Freiburg, die exzellente Arbeit leistet. Daneben belegen Studierende die Grundlagen elektronischer Musik, Improvisation, Komposition und Rhythmustraining.
Welchen Vorteil bietet die Ausbildung im Bereich der Neuen Musik für das Berufsleben junger Pianistinnen und Pianisten?
Alfonso Gómez: Neue Musik wird ein Teil des Lebens aller jungen Musikerinnen und Musiker sein, die heute ihren Abschluss machen, egal in welchem Fach. Ob sie sich ausschließlich mit Neuer Musik beschäftigen oder nur ab und zu: Die Neue Musik wird ein Bestandteil des Musiklebens bleiben, das ist die Realität. Für ihre Aufgaben auf diesem Gebiet sollen unsere Absolventinnen und Absolventen so gut wie möglich gewappnet sein. Man kann sich allerdings nur in Grenzen vorbereiten. Die Neue Musik verändert sich ständig, die Musik von heute wird in 15 Jahren altmodisch sein. Wer die Interpretation Neuer Klaviermusik studiert, lernt, flexibel zu sein, und neugierig auf Neues bleiben.
Warum sollten sich Musikerinnen und Musiker, die sich mit Neuer Musik beschäftigen möchten, für ein Studium in Freiburg entscheiden?
Alfonso Gómez: Studienbewerberinnen und -bewerber bekommen in Freiburg die besten Voraussetzungen, sich weiterzuentwickeln. Sie studieren an einer exzellenten Hochschule mit ganz tollen Kolleginnen und Kollegen in einer schönen und musikaffinen Stadt. Der Studiengang pflegt eine enge Zusammenarbeit mit dem traditionsreichen Institut für Neue Musik. Wir tauschen uns häufig aus und entwickeln neue Projekte. Es ist eine sehr schöne Atmosphäre und ein Klima, das den Austausch zwischen Interpretinnen und Interpreten einerseits und Komponistinnen und Komponisten andererseits fördert. Studierende der Komposition kommen immer wieder mit Fragen auf uns zu, was in der Neuen Musik am Klavier möglich ist, wie bestimmte Klänge funktionieren. Die Hochschule arbeitet hier wie ein Musiklabor, in dem man gemeinsam experimentiert. Als Pianistinnen und Pianisten haben wir auf diese Weise einen kleinen Anteil an den entstehenden Kompositionen. Wir sind auch an Musikproduktionen beteiligt und lernen diesen Aspekt der musikalischen Arbeit kennen.
Valeria Lapşin: Es gibt noch einen Aspekt, der für das Studium in Freiburg spricht: Die Bibliothek ist im Bereich der Neuen Musik sehr gut ausgestattet. Das ist für die intensive Auseinandersetzung mit den Werken der Neuen Musik eine große Hilfe.
Frau Lapşin, Herr Gómez, vielen Dank für das Gespräch.
Die nächste Bewerbung für den Studiengang Master Musik mit Hauptfach »Interpretation Neue Klaviermusik« ist zum 1. Dezember 2022 möglich. Informationen zum Bewerbungsverfahren und zu den Anforderungen der Eignungsprüfung finden Sie auf der Seite zur Eignungsprüfung und der Seite zum Fach »Interpretation Neue Klaviermusik«.