Musikhochschule auf Reformkurs

In seiner Rede anlässlich der Akademischen Feier zur Wintersemestereröffnung 2014/15 sprach Rektor Dr. Rüdiger Nolte am 13. Oktober im Konzertsaal der Freiburger Musikhochschule über die künftigen Herausforderungen in der musikalischen Welt - und mit welchen Konzepten die Freiburger Musikhochschule diesen begegnet:

Meine Damen und Herren,

hinlänglich bekannt wird sein, dass der Landesrechnungshof empfohlen hatte, die Haushalte der fünf baden-württembergischen Musikhochschulen um 4 bis 5 Millionen Euro zu kürzen.
Weniger bekannt mag sein, dass mit dieser Empfehlung die Freiburger Musikhochschule wegen angeblich unverhältnismäßig guter Ausstattung im besonderen Kürzungsfokus stand und wir einen oft mühsamen Argumentationsfeldzug dagegen zu führen hatten.
Und viel zu unbekannt ist, dass wir diese schließlich anerkannte Klarstellung den unnachgiebigen Überprüfungen von Ludwig Holtmeier zu verdanken haben - was dank ihm schließlich in Baden-Württemberg zur akzeptierten Einsicht führte, dass gewisse Aspekte für die weitere Debatte um die Hochschulen bindend wurden, wie etwa die Beachtung vereinbarter Richtzahlen oder die der Ausfinanziertheit oder die differenzierte Beachtung offen darzulegender Stellensituation.

Diese Klarstellungen in Kombination mit der Tatsache – und hier danke ich Prof. Andreas Doerne -, dass wir gleichzeitig mit Reform-Konzepten aufwarten können, hatte im vergangenen Jahr zur Folge, dass die Freiburger Hochschule nun wieder den Ruf als solider Standort genießt und dass wir wieder nach vorne blicken können.

Und das ist auch nötig.

Denn wichtiger als diese tagespolitische Debatte ist es, die musikalische Ausbildung im Zusammenhang gesellschaftlicher Veränderungen neu zu überdenken.
Und darüber möchte ich heute sprechen, auch, um Ihnen den gedanklichen Zusammenhang für einige Reform-Vorhaben zu skizzieren.

Die Tatsache der SWR-Orchester-Fusion ist wohl nicht allein Ausdruck einer intendantischen Ignoranz, sondern vielmehr Ausdruck eines geringer gewordenen Interesses an der Tradition klassischer Musik.

Und damit bin ich beim 1. Thema meiner Rede:
Wir haben ein gehöriges Problem mit unserer musikalischen Gegenwart.
Merkwürdig: unbestritten ist die Tatsache, dass sich um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert mit dem Übergang einer aristokratischen in eine bürgerliche Gesellschaft eine vollkommen neue Kultur gebildet hat.
Aber kaum wahrgenommen wird, dass sich unsere gegenwärtige Kultur um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert, also in den letzten 25 Jahren, im Zuge einer digitalen Revolution ebenfalls entscheidend verändert hat – und zwar so sehr, dass man wohl nicht mehr von bürgerlicher Kultur sprechen kann, dass zumindest so etwas wie großflächige Kulturschichtungen oder –überlappungen festzustellen sind.

Die gestrige Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an den Informatiker Jaron Lanier mag wie die Bestätigung eines dringend notwendigen neuen gesellschaftlichen Diskurses gewirkt haben.
Der nicht zuletzt unsere Gegenwartswahrnehmung meint.
Denn es ist doch auffällig, dass trotz aller radikalen Veränderungen weiterhin häufig an bürgerlichen Werten und Traditionen festgehalten wird, so, als hätten die noch immer ihre prägende Relevanz.
Um über Musik zu sprechen: Betrachtet man die vorherrschend aus Werken vergangener Epochen bestehenden Konzertprogramme, dann ist festzustellen, dass Viele das ganz selbstverständlich finden und diese historische Musik erleben, als sei sie uns nah.
Wenn wir aber unsere historische Distanz zu diesen Werken außer Acht lassen, übersehen wir deren stilistische und klangliche Besonderheiten.
Oder um einem Gedanken des Philosophen Walter Benjamin zu folgen: wir sollten uns auf die Werke zubewegen und nicht diese zu uns heranholen.
Ein Gegenargument wäre sicherlich: große Kunst hat doch nichts zu tun mit gesellschaftlichen Veränderungen.

Das mag sogar sein.
Meist aber wird die behauptete Gültigkeit der Kunst nicht aus dem Werk selbst heraus erklärt – womit man sich nämlich bereits auf dessen historische Besonderheit einlassen würde -, sondern mit einer im Verhältnis zum Werk äußerlichen Überzeugung.

Ganz abgesehen davon, dass wir mit solch distanzloser, die Musik als überhistorisch setzender Wahrnehmung unseren eigenen Bezug zu unserer eigenen musikalischen Gegenwart ignorieren – anders als das übrigens in der Bildenden Kunst oder in der Literatur der Fall ist.
Aus der Perspektive einer noch heute überwiegenden Haltung des Konzertpublikums, aber auch bei Musikern, lässt sich also beobachten, dass man unsere musikalische Gegenwart am liebsten sich selber überlässt.
Als ließe man sie – ausgegrenzt – links liegen.
Warum? Weil sie uns nicht gefällt?

Aber wenn wir die Musik unserer Gegenwart nicht als Ausdruck unseres ästhetischen Empfindens akzeptieren können - Neue Musik, auch Jazz, Rock, Pop - warum ändern wir sie dann nicht?
Eine solche regulierende Auseinandersetzung von Musik und Gesellschaft, von Gewohnheit und Experiment, von Unterhaltung und Innovation, von Geselligkeit und Kontemplation hat über mehrere Jahrhunderte durchaus funktioniert – nicht zuletzt deshalb, weil diese regulierende Auseinandersetzung aus einem eigenen Gegenwarts-Verständnis heraus geschah.
Ich spreche damit nicht gegen die Pflege unserer musikalischen Tradition. Ganz im Gegenteil.
Worum es mir geht: unser Umgang mit Werken aus früheren Zeiten, unser Spielen und unser Hören sollte aus unserem eigenen Gegenwartsverständnis heraus geschehen – und nicht, als wären die Werke unsere Gegenwart.

Und hiermit bin ich beim 2. Thema meiner Rede: die Frage nach der gegenwärtigen Bedeutung von Musik.
Das Geschäft mit der Klassik scheint - noch - zu funktionieren, besonders im Festivalbereich.
Festivals jedoch sind Events und bieten über die Musik hinaus zusätzliche Attraktionen gehobener Geselligkeit.
Doch wenn die Geselligkeit überhandnimmt, kann das passieren, was jemand mal als die Infantilisierung der Kultur bezeichnet hat, die Verselbständigung zur Spaßkultur.
Was nun den Bezug zur Musik selbst betrifft, so ist momentan ein rapider Interessensschwund an unserer klassischen Musiktradition zu beobachten.
Diese Krise ist jedoch nur ein Teil eines weiter reichenden Problems unseres Umgangs mit der gesellschaftlichen Bedeutung von Musik.
Denn der grundsätzliche Bedeutungswert von Musik kommt uns zunehmend abhanden.
Und dieses Problem mag mit dem Überwiegen von Spaßkultur sehr wohl zusammen hängen.
Hier nun setzt die immer wichtiger werdende Aufgabe für unsere Musikhochschulen an. Denn wir müssen mehr als bislang begreifen, dass
1. die gesellschaftliche und menschliche Bedeutung von Musik weit über das Klassische Repertoire hinaus geht, und
2. begreifen, dass wir an den Musikhochschulen uns für diese umfassende Musikbedeutung verantwortlich zu fühlen haben.

Selbstverständlich muss es an unseren Hochschulen weiterhin um künstlerische Exzellenz gehen. Und in jedem Fall ist gegen leichtfertig dagegen formulierte Meinungen mit allem Nachdruck anzugehen.
Denn der Schutz unserer großen musikalischen Kunsttradition muss eine unserer zentralen Verantwortungen bleiben.
Der formulierte Vorwurf aber, wir würden hier in Freiburg zulassen, dass aus unserer Kunsthochschule eine Pädagogische Hochschule wird, stimmt aus mehreren Gründen nicht.
- Erstens geht es niemals um ein entweder oder zwischen künstlerisch und  pädagogisch, sondern um beides,
- Zweitens haben wir in jüngster Vergangenheit im künstlerischen Bereich sehr wohl exzellent berufen können, teilweise sogar steigernd, und
- Drittens stimmt der Vorwurf nicht, weil er die gesellschaftlich dringende Notwendigkeit reformierter Pädagogik ignoriert - und zwar fatal ignoriert.

Dazu muss ich bitte noch einmal ausholen:
Die gesellschaftliche Bedeutung von Musik ergab sich in früheren Jahrhunderten aus Repräsentationsbedürfnissen, etwa denen der Fürsten oder denen eines selbstbewusst gewordenen Bürgertums.
Heutzutage aber ist die wirtschaftlich und politisch einflussreiche Elite nur noch in Ausnahmefällen bereit, klassische Musik zu fördern.
Und wenn unsere musikalische Hochkultur nur noch rudimentär von Repräsentationsbedürfnissen getragen wird, dann muss sich die Pflege und Förderung unserer Musikkultur anders motivieren.
Wenn die Pflege der Musikkultur nicht mehr von oben kommt, dann muss sie aus der Breite kommen.
Und hierfür brauchen wir Menschen, die ich als künstlerisch motivierte Menschen bezeichnen möchte.
Diese künstlerisch motivierten Menschen wären nach dem Verfall der Repräsentationskultur die gültige Referenz für eine lebendige Musikkultur. Nicht zuletzt im Verweis auf Ideale, wie sie schon bei Friedrich Schiller oder Wilhelm v. Humboldt zu finden sind.
Vorhin sprach ich davon, dass die Fusion der SWR-Orchester ein Ausdruck eines veränderten gesellschaftlichen Interesses ist. Jetzt kann ich ergänzen, dass der Widerstand gegen die Fusion zwar von einem enorm engagierten Freundeskreis betrieben wird, unterstützt von vielen Bürgern, dass sich letztlich aber das Engagement aus Wirtschaft und Politik in Grenzen hält.
Wie anders war es dagegen in Freiburg im Jahre 1887, als es die politische und wirtschaftliche Elite dieser Stadt als Ausdruck ihrer Repräsentationsbedürfnisse geradezu für unverzichtbar hielt, ein Philharmonisches Orchester zu gründen.
Wenn heute also aus den Führungsetagen kaum mehr Schutz und Förderung für Musikkultur zu erwarten ist, dann müssen wir uns umso mehr für das Ideal des künstlerisch motivierten Menschen engagieren.
Letzte Woche erst hörte ich von einem Fachmann der Branche, in 20 Jahren, wenn eine Folgegeneration die großen Vermögen erben wird, ist Schluss mit der Förderung klassischer Musik.

Es sei denn, wir unternehmen etwas.

Und hier setzen Aufgabe und Wichtigkeit reformorientierter Musikpädagogik an.
Doch nicht mehr allein zur Pflege musikalischer Hochkultur, wie sie für ein bürgerliches Repräsentationsbedürfnis sozusagen exklusiv passend war, sondern im Sinne eines umfassender reflektierten Musikverständnisses, das offen ist gegenüber allen Musikströmungen, d.h. frei ist von falschen Ausgrenzungen.

In diesem Zusammenhang nenne ich drei Freiburger Reform-Vorhaben:
1.  Das bereits andernorts beschriebene Projekt einer Labormusikschule als experimentellem Forschungsprojekt, an dem neue Lehrkonzepte entwickelt, erprobt und praktiziert werden sollen. Hier ist das Ideal des künstlerisch motivierten Menschen der unmittelbare pädagogische Anlass sowie der gesellschaftliche Auftrag.
2. Ein Institut in Kooperation mit der Freiburger Universität, mit dem ein tradierter Wissenschaftsbegriff hinterfragt werden soll, indem die bedeutenden Aspekte von Kunst und Pädagogik, auch unter soziologischer Perspektive, in die Musikwissenschaft mit einbezogen werden sollen – zugunsten eines neu und erweitert und offen reflektierten Verständnisses musikalischer Praxis.
3. Ein neu zu konzipierender Studiengang, der unter Verzicht auf einen falschen Perfektionsbegriff den Typus des musikalisch gebildeten Menschen zum Gegenstand hat, bei dem mit höchstmöglichem künstlerischen Anspruch ästhetische und technische Gegenwarts-Erscheinungen ebenso Bestandteil des Studiums sein sollen wie auch interdisziplinäre Studien, nicht nur mit anderen Künsten, auch mit Studien wie BWL, Soziologie oder Neurologie, ein Studiengang, der zudem Kompetenzen im Umgang mit neuesten Medienentwicklungen vermittelt.

Die hier beschriebenen Reform-Vorhaben enthalten einen noch detailliert auszuarbeitenden Anspruch auf die Gründung einer Reform-Musikhochschule.
Entsprechend soll der rein künstlerisch ausgerichtete Bereich zeitnah ebenfalls hinterfragt werden.
Umso mehr freue ich mich über erste Eigeninitiativen, wie z.B. die Vereinbarung der Professorinnen Julia Schröder und Simone Zgraggen mit unserem ganz neu berufenen Violin-Professor Sebastian Hamann, im Masterstudiengang Co-Teaching zu praktizieren. Dies wäre eine erste Initiative gegen das noch vorherrschende Meister-Schüler-Prinzip.
Und wenn wir jährlich Tage für das Thema Improvisation reservieren, dann sind damit gerade auch die künstlerisch ausgerichteten Klassen angesprochen.
Uns ist klar, dass das ein langwieriger Überzeugungsprozess ist.
Aber es kann auch nicht so schwierig sein zu erkennen, dass Improvisation als Teil künstlerischer Qualifikation im 19. Jahrhundert sehr wohl und erfolgreich zum Ausbildungskanon im musikalischen Hochleistungsbereich gehörte.
Mit der heute üblichen Reduktion auf das Einstudieren von Werken besteht die Gefahr, dass der Begriff des Künstlerischen nur vorausgesetzt wird oder sich auf individuell gebildete Empfindungen beschränkt oder auf private Inspirationen.
Oder sich reduziert auf den Anspruch auf Perfektion.

Noch einmal zurück zur Politik.
Der Bericht des Landesrechnungshofs und die darauf folgende Debatte haben eins gezeigt, und das ist für uns alle neu und sehr ernst zu nehmen: die Daseinsberechtigung unserer Musikhochschulen ist nicht mehr selbstverständlich.
Und auch wenn vieles in dieser Debatte von Unkorrektheit geprägt war, bestand doch die Chance, dass wir Musikhochschulen sozusagen in uns gegangen sind.

Nicht zuletzt zeigt sich das im momentanen Bemühen, ein gemeinsames Konzept vorzulegen, das nicht mehr alle Hochschulen das gleiche anbieten lässt.
Dieses Konzept sieht vor, dass jede Hochschule ihr Angebot in drei Sparten auflistet.
a) Kernbereiche: die Kernbereiche enthalten das, was an jeder Hochschule unterrichtet werden muss: das sind Orchesterinstrumente, Gesang, Komposition, Klavier, Musiktheorie/Gehörbildung, Musikwissenschaft und Vorklassen-Ausbildung.
b) Profilbereiche: diese Profilbereiche beschreiben nahezu den Rest des Angebots, mit der Möglichkeit, eigene Schwerpunkte zu setzen.
c) Qualifizierte Zentren. Hier handelt es sich um besondere Ausbildungsschwerpunkte mit besonders tief und intensiv angelegten Curricula.
Pro Hochschule sollten es nicht mehr als zwei oder drei Zentren sein.

Wir haben uns entschlossen, unter Berücksichtigung der besonderen Standortvorteile in Freiburg dem Senat und Hochschulrat folgende Zentren vorzuschlagen und diese in den entsprechenden Fachgruppen zu besprechen:
1. Forschung. Hier sei an das gemeinsame Institut von Hochschule und Universität erinnert, aber auch an unsere Kooperationen mit der Pädagogischen Hochschule
2. Kirchenmusik als Baden-württembergisches Zentrum neben Stuttgart
3. Ein Zentrum für künstlerische und angewandte Klavierpraxis.
Diese drei Qualifizierten Zentren sind in Ergänzung zu den Kernbereichen zu verstehen und zu unseren übrigen Schwerpunkten wie etwa Schulmusik, Instrumental- und Vokalpädagogik, Orchesterinstrumente oder Komposition.

Die Tatsache, dass Freiburg vergleichsweise viele Klavierprofessuren hat, sollten wir argumentativ nach vorne gerichtet nutzen.
Freiburg soll ein Muster bildendes Zentrum für Klavierstudien werden.
Geplant ist, einige Klavier-Professuren zu profilieren, z.B. als Ausbildungen für qualifiziert ausgebildete Klavierpädagogen, denn es kann nicht sein, dass das Klavier an Musikschulen weiterhin sehr gefragt ist und wir dafür keine adäquaten Ausbildungen bieten, oder profiliert als Professuren für Improvisation oder für Korrepetition.
Und selbstverständlich sollen einige Professuren dem pianistischen Hochleistungsbereich vorbehalten bleiben.
Dieses Zentrum wäre deshalb ein qualifiziertes Zentrum, weil dort umfassend über die Bedeutung des Klavierspiels in allen seinen Facetten nachgedacht werden soll, d.h. ohne unnötige Ausgrenzungen. Und ohne „links-liegen-lassen“.

Zum Schluss: ich hatte vor Kurzem Gelegenheit, in Japan zu sein. Unter vielem anderen hat man dort Gelegenheit zu erkennen, dass unsere europäische Kultur nicht die einzige auf der Welt ist.
Die Bedeutung der Globalität ist ein weiterer Aspekt unserer Gegenwart.
Auch den sollten wir in unserer Musikhochschulausbildung nicht übersehen.
So wenig, wie wir übersehen sollten, dass wir dabei sind, unsere große Musiktradition durch musealisierende Traditionspflege zu gefährden – und damit in Gefahr sind, ein wahrliches Kulturgut aufs Spiel zu setzen, nämlich die Bedeutung von Musik für unsere menschliche Dignität.

Hier an unserer Hochschule gibt es zur Zeit viele gute Ansätze.
Und ich bitte Sie alle herzlich, dabei mit zumachen.

Wie hat gestern Jaron Lanier, der Musiker und Kenner unserer digitalen Gegenwart seine Rede beendet: „Lasst uns unsere Schöpfung lieben“.

Besten Dank.