Studie: Wohin lenken Musikerinnen und Musiker ihre Aufmerksamkeit?
Herr Hohagen, Ihr Forschungsprojekt beschäftigt sich damit, worauf Musizierende während des Spielens ihren Fokus legen. Worum geht es Ihnen dabei?
Jesper Hohagen: Im ersten Schritt ist es wichtig herauszufinden, wohin Musizierende überhaupt ihre Aufmerksamkeit lenken – sowohl beim Spielen eines Instruments als auch beim Singen. Es gibt viele verschiedene Situationen, in denen musiziert wird, etwa beim Üben, auf der Bühne, Solo oder im Ensemble, und natürlich unterschiedliche Motivationen. Deswegen wollen wir das Thema zunächst einmal möglichst breit erfassen und die vielfältigen, musikspezifischen Aufmerksamkeits-Fokussierungen sammeln. Ob es bestimmte Fokussierungen gibt, die positive Wirkungen auf bestimmte Aspekte der Leistungen von Musikerinnen und Musikern haben, soll dann in der zweiten Phase erforscht werden.
Die erste Phase Ihrer Studie wird etwa 1,5 Jahre dauern. Was passiert in dieser Zeit?
Jesper Hohagen: Zunächst wollen wir Daten in verschiedenen Teilstudien erheben und so eine Grundlage schaffen. Neben offenen Fragebögen zu dem Thema begleiten wir auch Musikerinnen und Musiker mit unterschiedlichem Spielniveau beim Üben und Auftreten und interviewen sie anschließend zu Ihrem Aufmerksamkeitsfokus während des Spielens und Singens. Auch hier ist die Vielfalt wichtig: Wir befragen leidenschaftliche Freizeitmusizierende, Musikstudierende und Profis jeden Alters. Und wir versuchen, möglichst viele Instrumente abzudecken und auch verschiedene Übe-Phasen und Auftritte.
Wir befragen leidenschaftliche Freizeitmusizierende, Musikstudierende und Profis jeden Alters und versuchen, möglichst viele Instrumente abzudecken.
Jesper Hohagen
Wie gehen Sie dabei konkret vor?
Jesper Hohagen: Wir filmen die Musizierenden beim Üben und während eines Auftritts. Außerdem bekommen sie in manchen Studien eine spezielle Brille aufgesetzt, die ihre Blickbewegungen erfasst. Danach führen wir Interviews mit ihnen, während sie sich das Video anschauen. In Pilot-Tests haben wir herausgefunden, dass das sehr sinnvoll ist, weil sich Teilnehmende dadurch an kleinste Details erinnern: Was ist in genau dieser Sekunde passiert, warum bin ich rausgeflogen, warum habe ich wieder von Vorn begonnen? Unser Ziel ist, durch die Antworten auf solche Fragen und die Aussagen in den Interviews einen großen Pool an Fokussierungen zu sammeln. Diese Daten werden dann durch bestimmte Analysetechniken kategorisiert und strukturiert. So finden wir hoffentlich bestimmte Muster von Aufmerksamkeitsrichtungen, die viele Musizierende nutzen. Wenn es Mechanismen gibt, die bei vielen Personen auftauchen, wollen wir die Wirkung dieser Art von Fokussierungen in einer Reihe von experimentellen Untersuchungen testen. Das passiert dann in der zweiten Phase. Wichtig ist, welche Effekte der Aufmerksamkeitsfokus auf Bewegungen beim Musizieren hat, aber auch, die Wirkungen auf musikrelevante, psychologische Aspekte zu überprüfen, wie Selbstwirksamkeit, Lampenfieber oder Flow.
Für Ihre Studie nutzen Sie einen Ansatz aus der Sportwissenschaft, der dort bereits etabliert ist. Wie sind Sie darauf gekommen?
Jesper Hohagen: Ich habe mich immer schon für Sport und Sportwissenschaft interessiert und war auch selbst viele Jahre semiprofessioneller Sportler: Ich habe Fußball gespielt und mir dadurch zum Teil mein Studium finanziert. Deswegen kannte ich diese seit Ende der 1990er-Jahre etablierte Theorie in der Sportwissenschaft, die sich damit beschäftigt, wohin Sportlerinnen und Sportler ihre Aufmerksamkeit richten und welche Wirkung das haben kann. Es gab in der Musikforschung bislang vereinzelte Studien, die diese Theorie auf die Musik übertragen haben. Der Erkenntnisgewinn ist bis jetzt aber eher schwach.
Könnten Sie diesen Ansatz kurz beschreiben?
Jesper Hohagen: In der Sportwissenschaft gibt es dieses sehr bekannte, dichotome Paradigma zur Wirkung von zwei Aufmerksamkeits-Fokussierungen beim Ausführen einer Bewegung. Dieses Modell unterscheidet generell einen internen von einem externen Fokus. Der interne Fokus kann als Fokussierung auf den eigenen Körper und die eigenen Bewegungen beschrieben werden, ein externer Fokus meint die Lenkung der Aufmerksamkeit auf das Ziel der Bewegung oder den Bewegungseffekt. Das kann man gut an dem einfachen Beispiel eines Basketballwurfs verdeutlichen: Hier kann der visuelle Fokus und die Konzentration auf die Ausführung der Wurfbewegung, den Arm oder die Finger gerichtet sein, das wäre ein interner Fokus. Oder auf den Basketballkorb, also auf das externe Ziel. Aus meiner Sicht und bei Betrachtung der Studienergebnisse aus der Sportwissenschaft funktioniert diese Unterscheidung im Sport sehr gut, beim Musizieren ist es jedoch komplizierter.
Warum funktioniert dieser Forschungsansatz in der Musik nicht so gut wie im Sport?
Jesper Hohagen: Ich denke, das hat mehrere Gründe. Sowohl im Sport als auch beim Musizieren spielen Bewegungen und deren zu Grunde liegenden Mechanismen eine wichtige Rolle. Allerdings sind in der Musik der Klang und verschiedene musikalische Aspekte noch wichtiger. Das heißt, es gibt mehr Faktoren und Dimensionen, die die musikalische Leistung beeinflussen, als nur die Bewegung. Hinzu kommt, dass sich sportliche Leistungen oft viel besser messen lassen: Indem wir die Anzahl der Treffer von 20 Basketballwürfen mit dem einen oder anderen Fokus einfach zählen. Die Einschätzung musikalischer Leistung ist oftmals komplexer, da es wenige objektive Messmethoden gibt.
Sportliche Leistungen lassen sich besser messen. Die Einschätzung musikalischer Leistung ist oftmals komplexer, da es wenige objektive Messmethoden gibt.
Jesper Hohagen
Beim Musizieren gibt es also prinzipiell mehr Dinge, auf die man fokussieren kann. Welche Unterschiede gibt es noch im Vergleich zur Sport-Forschung?
Jesper Hohagen: Musik ist mehr als nur Bewegung, es gibt Vieles, auf das man achten kann: Auf bestimmte Techniken beim Spielen, auf die Noten, auf den Ausdruck, die Kommunikation mit dem Publikum oder auch auf kleinste körperliche Bewegungen, etwa die der Finger. Beim Musizieren bekommt man ständig auditives Feedback und setzt das mehr oder weniger in Echtzeit um in den Bewegungsapparat. In ersten Interviews, die wir bereits durchgeführt haben, berichten Musizierende auch davon, dass sie sich während des Spielens ein Bild oder eine Szene vorstellen und sich darauf konzentrieren, also auf sogenannte Images fokussieren. Wahrscheinlich gibt es dabei Unterschiede zwischen Sängerinnen und Sängern und auf der einen und Instrumentalistinnen und Instrumentalisten auf der anderen Seite. Außerdem fokussieren sich Musizierende voraussichtlich auf sehr unterschiedliche Dinge je nachdem, in welchem Übe-Stadium sie sich befinden: Am Anfang der Übe-Phase kann das etwas ganz anderes sein als kurz vor dem Auftritt. Auch hierzu lassen sich in den Daten erste Anhaltspunkte finden.
Was wäre für Sie das Wunschergebnis Ihres Forschungsprojekts?
Jesper Hohagen: Mein großer Wunsch wäre, dass sich ein musikspezifisches Modell zur Wirkung des Aufmerksamkeitsfokus herauskristallisiert, das vielleicht Parallelen hat zu sportwissenschaftlichen Konzepten, vielleicht auch nicht, aber die speziellen musikbezogenen Aspekte hervorhebt. So ein Modell könnte dann im Forschungsbereich von anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Untersuchungen überprüft, vielleicht bestätigt oder widerlegt werden. Wichtig wäre, dass sich ein Diskurs um die Frage bildet, warum wir was genau fokussieren. Ein weiteres Ziel wäre, dass wir am Ende begründet sagen können: es gibt bestimmte Routinen, Ziele, Motivationen, vielleicht auch im Bereich des mentalen Trainings, die Musizierende im Amateur- und im professionellen Musikbereich unterstützen können. Schön wäre es, wenn die Ergebnisse auch Wirkungen von Fokussierungen auf Performance-Aspekte aufzeigen, die sich nicht allein auf die musikalische Leistung beziehen, sondern auch auf Bereiche der mentalen und körperlichen Gesundheit von Musizierenden, zum Beispiel in Bezug auf Lampenfieber oder die Körperhaltung beim Musizieren.
Jesper Hohagen
Dr. Jesper Hohagen ist akademischer Mitarbeiter am »Freiburger Institut für Musikermedizin« (FIM) und lehrt im Fach Musikphysiologie an der Hochschule für Musik Freiburg. Er leitet das Forschungsprojekt »Focus of attention in music« (FOAM; »Aufmerksamkeitsfokus in der Musik«). Es wird von der Baden-Württemberg Stiftung von 2024 bis 2027 mit 145.000 Euro gefördert. Jesper Hohagen hat Musikwissenschaften und Germanistik an der Universität Bremen (Bachelor) und an der Universität zu Köln (Master) studiert. Er promovierte an der Universität Hamburg im Fach »Systematische Musikwissenschaft«. In seiner Dissertation untersuchte er, wie musikalische Bewegungen wahrgenommen werden. Jesper Hohagen ist Amateur-Musiker und war semi-professioneller Fußballspieler.
Weitere Informationen zu Jesper Hohagen gibt es auf unserer Website.